Kindliche Neugier als wichtigstes Kapital

von Robert Maus, Wiesbaden


 

Seit 30 Jahren schult das Wiesbadener Montessori-Bildungszentrum Lehrer und Erzieher aus dem gesamten Rhein-Main-Gebiet. Die Pädagogen sollen Kindern das selbstbestimmte Lernen ermöglichen. 

 

Hände und Arme ruhen keine Sekunde. Mimik und Gestik unterstreichen jedes Wort. Wenn Rainer Völkel erklärt, was die Lehre von Maria Montessori bedeutet und wie Kinder von ihr profitieren, dann ist er in seinem Element. Das ist kein Wunder, denn Völkel ist sowohl Vorsitzender des Wiesbadener Montessori-Bildungszentrums als auch des Vereins Montessori Kinderhaus am Elsässer Platz. Der 76 Jahre alte Pädagoge ist dies mit Leib und Seele. Aber: Völkel unterrichtet keine Kinder, sondern Lehrer und Erzieher. Seit 30 Jahren sorgt das Bildungszentrum dafür, dass es ausreichend Pädagogen gibt, die Kinder im Sinne von Maria Montessori unterrichten können. „Die kindliche Neugier ist das wichtigste Kapital, das der Pädagoge hat“, lautet Völkels Credo, und er konkretisiert: „Die Kinder wollen wissen, ob es den lieben Gott gibt und warum sich Erwachsene scheiden lassen.“

 

Ausgebildete Montessori-Pädagogen sollen die Kinder befähigen, sich die Antworten auf diese und ähnliche Fragen selbst zu holen, etwa bei Experten. „Der Schüler folgt dem Lehrer, und der Lehrer folgt dem Lehrplan. Wohin die Reise geht, weiß der Schüler aber nicht, denn er kennt ja den Lehrplan nicht.“ Für Völkel hat der traditionelle Unterricht ein entscheidendes Defizit: Er gehe nicht auf die Wünsche und Bedürfnisse der Kinder und Schüler ein. In der Montessori-Pädagogik gebe es einen Lehrplan in dieser Form nicht, stellt er klar und verdeutlicht den Unterschied: Eine Montessori-Schule sei proppenvoll mit allen möglichen Sachen. Sie seien dafür da, dass Schüler sich das Wissen möglichst selbständig aneignen könnten. „Der Schüler kommt wie in einem Supermarkt in einen Laden und entscheidet dann, was er machen möchte.“ Der Vorteil liegt nach Völkels Einschätzung klar auf der Hand: „Sie müssen den Schüler nicht motivieren. Er beginnt sofort zu lernen.“ Auf Interesse folge Motivation und anschließend der Lernerfolg.

 

Damit Lehrer verstehen, wie sie ihre Schüler auf diesem Weg begleiten, bilden Völkel und seine Kollegen sie zu Montessori-Pädagogen aus. Ursprünglich war das Bildungszentrum eine Abteilung des Kinderhauses – seit 10 Jahren ist es ein eigener Verein; und der ist sehr aktiv. In der vergangenen Woche ging der vorerst letzte Kurs zu Ende. Darin machten 38 Personen das Montessori-Diplom, wie Völkel erläutert. Die Kurse dauern etwa zwei Jahre und werden berufsbegleitend angeboten. Von den 38 Absolventen arbeiten drei im Kinderhaus, die übrigen Teilnehmer sind Erzieherinnen der Stadt Wiesbaden und Lehrer aus verschiedenen Schulen. Das Kinderhaus am Elsässer Platz und das Montessori-Bildungszentrum sind zwei verschiedene Vereine, auch wenn das Bildungszentrum Räume im Kinderhaus angemietet hat. Der Kinderhausverein macht Kinder- und Schülerarbeit, wie Völkel darstellt, und er zählt als Beispiele die Puppenspielwoche oder Kinderkultur auf. Zudem ist das Haus eine Kindertagesstätte. Schon bei der Gründung des Vereins sei es darum gegangen, auch Erwachsenenbildung anzubieten, um Erzieherinnen für das Kinderhaus auszubilden, erinnert sich Völkel.

 

Neben dem Montessori- Kinderhaus am Elsässer Platz gehört auch das Montessori-Kinderhaus Freudenberg zum Verein. Das Einzugsgebiet ist groß: Das Wiesbadener Bildungszentrum bildet Lehrer aus, die aus Mainz, Rheinhessen, Limburg und der gesamten Region kommen. Im Rhein-Main-Gebiet gibt es nur noch in Hofheim ein weiteres Montessori-Bildungszentrum, wie Völkel berichtet. Wie alle Einrichtungen gehört auch der Wiesbadener Verein zur Deutschen Montessori- Gesellschaft. „Wenn wir einen Kurs anbieten wollen, dann müssen wir diesen bei der Montessori-Gesellschaft beantragen“, sagt er. Die Gesellschaft organisiert die Ausbildung in Deutschland seit 90 Jahren und verleiht das Diplom für die Absolventen. Völkel zufolge machen jedes Jahr deutschlandweit etwa 500 bis 700 Menschen einen solchen Kurs. Allein das Wiesbadener Bildungszentrum hat seit seinem Bestehen etwa 500 Absolventen dazu befähigt, Kinder nach den Grundsätzen von Maria Montessori zu unterrichten.

 

Das ist aber nicht alles. „Wir sind auch so etwas wie die Entwicklungsabteilung der Deutschen Montessori-Gesellschaft“, sagt Völkel lachend und holt wieder weit mit den Armen aus. In Wiesbaden wurde der Standardkurs weiterentwickelt und den unterschiedlichen Anforderungen von Lehrern und Erziehern angepasst. Teile der Ausbildung werden seitdem nur für Erzieher oder nur für Lehrer angeboten. Das Grundgerüst dieses neuen Kurses hat die Gesellschaft übernommen und bietet es nun ebenfalls an. Der Kurs, den die Gesellschaft anbietet, umfasst nach Völkels Angaben rund 500 Unterrichtseinheiten und kostet für die Teilnehmer 2.400 Euro. Mit dem Diplom können die Absolventen in einer Montessori-Einrichtung arbeiten. Allein in Wiesbaden gibt es nach Auskunft von Völkel, der vor dem Ruhestand Leiter des Wiesbadener Jugendamtes war, zirka 15 Montessori-Einrichtungen.

 

Die Kindertagesstätten und Schulen sind auf Mitarbeiter angewiesen, die das Konzept beherrschen. In ganz Hessen gibt es nach Völkels Kenntnis 15 Montessori-Schulen. Warum möchte jemand Montessori- Pädagoge werden? „Da gibt es verschiedene Gründe. Lehrer sind unzufrieden mit ihrer Arbeit in der Schule und wollen ihren Unterricht verändern. Dann wollen viele den Perspektivwechsel“, sagt er und konkretisiert: Es gehe nicht darum, was das Kind lernen solle, sondern darum, was das Kind lernen wolle. Das werde an der Uni nicht gelehrt. „Wir sind bestens ausgebildet, haben aber nie etwas richtig über Kinder gehört“, sagten viele Teilnehmer zu ihm. Nun werde nachgeholt, was Lehrer an den Universitäten nicht über Kinder gelernt hätten. Der Erfolg der Wiesbadener zeigt sich auch in ihrer Vernetzung. Neben zahlreichen deutschen Partnern in verschiedenen Städten arbeiten Völkel und seine Kollegen mit Montessori-Einrichtungen in Österreich, der Schweiz, Russland und Polen zusammen. In diesem Sommer geben sie in den Ferien erstmals einen Kurs im Kosovo.