Alexandra Stieger, die Präsidentin der Österreichischen Montessori-Gesellschaft, hat eine brilliante Klarstellung an den "Falter" auf seinen soeben erschienenen Artikel über Maria
Montessori geschrieben. Lesenswert - auch als Argumentationshilfe:
Lieber Herr Dusini,
liebe Falter-Redaktion,
Mit großem Interesse habe ich Ihre Analyse über Maria Montessori im Feuilleton der Ausgabe 13/24 gelesen. Während ich die umfassende Recherche und die differenzierte Betrachtung schätze, möchte
ich doch einige Punkte aus der Perspektive der Österreichischen Montessori-Gesellschaft näher beleuchten.
Der Artikels wird zunächst spektakulär mit Worten über Mussolini eingeleitet, die lediglich der Bruchteil eines Satzes von Maria Montessori sind, wodurch der Kontext und die eigentliche Aussage
verloren gehen. In dieser Textstelle kritisiert Montessori in ihrem Werk „Das kreative Kind“ (Montessori [1949], Herder 1972, S. 214) die Methoden von Mussolini und Hitler explizit. Dabei
unterstreicht sie nicht nur ihre deutliche Abgrenzung von totalitären Ideologien, sondern betont auch ihre Vision einer Pädagogik, die Freiheit und individuelle Entwicklung in den Vordergrund
stellt.
Die komplexe Beziehung zwischen Montessori und dem faschistischen Regime Italiens, insbesondere ihre anfängliche Annäherung und die spätere entschiedene Distanzierung von Mussolini, gewährt tiefe
Einblicke in die Herausforderungen und Dilemmata, mit denen sie konfrontiert war, während sie danach strebte, die Pädagogik in ihrem Heimatland Italien zu reformieren. Ihre unerschütterliche
Verpflichtung zu einer Pädagogik, die auf den Prinzipien der Freiheit und der individuellen Entwicklung beruht, stellt dabei ein zentrales Element ihres Erbes dar.
Ein weiterer im Artikel behandelter Punkt betrifft Montessoris Unterscheidung zwischen 'normalen' und 'anormalen' Kindern, wobei Sabine Seichters Interpretation suggeriert, dass Montessoris
Schriften auf einer „als wahnhaft geltenden Rassenlehre“ fußen würden. Die von Montessori verwendete Terminologie der 'Normalisierung' mag heute missverständlich wirken. Tatsächlich nutzte
Montessori die Begriffe im Sinne einer pädagogischen Strategie, die jedes Kind ermutigt, seine Einzigartigkeit zu erkennen und zu entfalten. Dieser Prozess, von ihr als 'Normalisierung'
bezeichnet, zielt darauf ab, eine förderliche Umgebung zu schaffen, die es jedem Kind ermöglicht, sein persönliches Potenzial vollständig zu entfalten. Montessoris Terminologie sollte daher im
Kontext ihrer Zeit und ihrer pädagogischen Absichten verstanden werden, wobei sie häufig Begriffe anderer Autoren übernahm und mit neuer Bedeutung füllte, um ihre Vision einer individuellen
Kinderförderung zu unterstreichen.
In diese sprachlichen Betrachtungen reiht sich auch das Beispiel vom gehorsamen Hund ein, das im Falter Artikel als isoliertes Zitat dargestellt wird. Dieses Zitat wurde auch schon im
Furche-Artikel im Jahr 2022 ohne textlichen Zusammenhang eingesetzt. In „Das kreative Kind“ (Montessori [1949], Herder 1972, S. 235) illustriert Montessori mit diesem längeren Vergleich ihre
Überzeugung, dass Gehorsam auf Freiheit und gegenseitigem Respekt basieren muss. Montessori schätzte bildhafte Vergleiche, um komplexe Konzepte zugänglich zu machen, doch ohne den Kontext
verlieren solche Beispiele ihre wahre Bedeutung.
Angesichts der im Falter-Artikel von Sabine Seichter angeregten Debatte, die einen „mitunter blauäugigen Montessorismus“ thematisiert, möchten wir, die Österreichische Montessori-Gesellschaft,
unterstreichen, dass der reflektierte Umgang mit Maria Montessoris Erbe weit entfernt von Naivität ist. Er basiert vielmehr auf einer sorgfältigen, differenzierten Auseinandersetzung mit ihrem
Vermächtnis, die darauf abzielt, ihre Pädagogik in einem zeitgemäßen, sozial gerechten und inklusiven Bildungskontext zu würdigen und weiterzuentwickeln.
Der Vorwurf der "fragwürdigen Wissenschaftsgläubigkeit" verkennt die Tiefe von Maria Montessoris humanistisch verwurzeltem Bildungsansatz. Als Ärztin und Anthropologin nutzte sie
wissenschaftliche Methoden, um das Lernen und die individuelle Entwicklung zu fördern, nicht als Selbstzweck, sondern als Mittel zum Verständnis und zur Verbesserung der Bildungsbedingungen.
Montessori sah die Wissenschaft als Werkzeug, betonte jedoch gleichzeitig die Bedeutung menschlicher Werte und die Notwendigkeit einer Bildung, die die gesamte Persönlichkeit des Kindes
berücksichtigt.
Unsere heutige Gesellschaft mag in mancher Hinsicht eine Tendenz zur Wissenschaftsgläubigkeit aufweisen. Montessoris Werk jedoch appelliert an eine ganzheitliche Sicht auf den Menschen, die
wissenschaftliche Erkenntnisse mit den tieferen Bedürfnissen und dem Wohl des Individuums in Einklang bringt. Ihre Pädagogik unterstreicht die Notwendigkeit, Bildung und Entwicklung nicht nur auf
der Basis wissenschaftlicher Fakten, sondern auch im Kontext menschlicher Werte und sozialer Verantwortung zu gestalten.
Der Artikel mündet leider in eine Simplifizierung und Verzerrung von Montessoris pädagogischer Philosophie. Montessoris Ansatz, basierend auf der Förderung der individuellen Entwicklung jedes
Kindes innerhalb einer vorbereiteten, liebevollen Umgebung, steht in direktem Gegensatz zu den futuristischen Visionen einer technologisch dominierten Optimierung des Menschen. Montessoris Erbe
ist ein Zeugnis ihres tiefen Glaubens an die Kraft der Bildung, die menschliche Entwicklung positiv zu beeinflussen, und nicht eine Blaupause für die technokratischen Utopien des Silicon
Valley.
Die aktuelle weltweite Verbreitung der Montessori-Methode ist ein eindrucksvolles Zeugnis für ihre universelle Anwendbarkeit und Wirksamkeit. Mit weltweit insgesamt 15.700
Montessori-Institutionen in 154 Ländern rund um den Globus hat Maria Montessoris pädagogisches Konzept eine beeindruckende globale Präsenz erreicht (‚Global Diffusion of Montessori Schools‘,
Journal of Montessori Research [2022] Band 8, Ausgabe 2). Die Gründerin der Methode, die zwischen 1913 und 1939 intensiv reiste, beobachtete nicht nur die Arbeit mit Kindern weltweit, sondern
verfeinerte kontinuierlich ihre Pädagogik und bildete Pädagog:innen aus verschiedenen Kulturen aus. Dieser interkulturelle Austausch und die Anpassungsfähigkeit ihrer Bildungsprinzipien haben zur
weltweiten Akzeptanz und zum Erfolg der Montessori-Pädagogik beigetragen.
Wir, die Österreichische Montessori-Gesellschaft, möchten Herrn Dusini und das Team des Falter herzlich einladen, uns in einer unserer Einrichtungen zu besuchen. Wir sind überzeugt, dass ein
direkter Einblick in unsere Arbeit weitere wertvolle Perspektiven eröffnen und den Austausch bereichern kann.
Ich danke Ihnen für die Möglichkeit, zu diesem wichtigen Dialog beizutragen, und hoffe, dass diese Ergänzungen ein tieferes Verständnis von Montessoris Beitrag zur Pädagogik fördern.
Mit freundlichen Grüßen,
Dr. Alexandra Stieger
Vorsitzende
Österreichische Montessori-Gesellschaft